Noch ein Geschichtsbuch?
Mein erster Gedanke als ich das Paket der Forschungsvereinigung Federik auspackte: „Naja, ein Geschichtsbuch, noch dazu über Freimaurerei, das wird trocken.“ Der zweite Gedanke: „Ich mag keine Freimauererwerbung mit großen Namen.“ Der dritte: „Was soll dieses Buch Menschen außerhalb der Freimaurerei bringen?“
Eher pflichtbewusst begann ich mit der Lektüre. Doch jede Seite zog mich tiefer in das Buch und die Geschichte hinein, die deutsche Geschichte. In die Geschichte der drei Protagonisten und die Geschichte der deutschen Freimaurerei. Jede Seite, die ich umblätterte, ließ mich ahnen: Dieses Buch hat mir weit über den historischen Rahmen hinaus etwas zu sagen. Es wird mich nicht in Ruhe lassen. Doch von Anfang an.
Teil 1 - die Grundlagen
Das 272 Seiten-Buch gliedert sich in drei Teile:
- Der Wunsch nach Freiheit
- Mutige und freie Denker: Stresemann, Schacht und Müffelmann
- Persönlichkeitsentwicklung heute
Dazu kommen Faksimile von Briefen und Dokumenten.
Der erste Teil beschreibt ausführlich und leicht nachvollziehbar die Bedeutung der Freiheit oder ihres Fehlens für die Entwicklung in Deutschland zwischen den beiden Weltkriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Die politischen, wirtschaftlichen, sozialen und gesellschaftlichen Bedingungen werden nicht als Ausfluss des Kaiserreichs, sondern als ein Ergebnis des verlorenen 1. Weltkrieges und des Versailler Vertrages. Das Autorenteam zeichnet auf 272 Seiten ein Sittengemälde der „goldenen 20er Jahre“ im Licht der Zeit, den rauschenden Festen, dem Aufschwung und dem Drang nach persönlicher, individueller Freiheit auf der einen, den Schatten auf der anderen Seite:
Entwurzelte Kriegsheimkehrer, unbehandelte Traumata, eine ausgemergelte, von horrenden Reparationszahlungen zersetzte Wirtschaft, einem aufbegehrenden Nationalismus gepaart mit Verschwörungsmythen wie der Dolchstoßlegende.
Teil 2 - die Vorbilder
Vor diesem Hintergrund entfaltet das Autorenteam, eine Freimaurerin und drei Freimaurer, in Teil zwei die politisch-philosophisch-freimauerischen Lebensläufe der drei Protagonisten. Sie lässt die historischen Figuren mit all ihren Stärken und Schwächen lebendig werden.
Sachkundig wie schon im ersten Teil legen sie nicht nur die Lebensläufe der drei Freimaurerbrüder offen. Sie gewähren mit Zitaten von Wegbegleitern und Gegnern Einblicke in die Gedanken- und Seelenwelt der drei Männer. Dabei wir immer wieder der unheimliche Druck erkennbar, unter dem die drei Männer standen, wenn sie in dieser Zeit entsprechend ihrem Tugendkatalog handelten und sich davon auch nicht durch persönliche Nachteile oder sogar Lebensgefahr abhalten ließen.
Etwa wenn der schwer kranke Gustav Stresemann als Außenminister mit seinem französischen Amtskollegen Aristide Briand die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund vorbereitete. Wenn er über die Aussöhnung zwischen den Erbfeinden sprach und dafür zuhause mit Misstrauen und Argwohn bestraft wurde.
Oder wenn der hochbegabte Finanzexperte Hjalmar Schacht als jemand beschrieben wird, der wegen seiner Rolle im 3. Reich umstritten war. Detailliert gehen die Autoren auf die Rolle Schachts bei der Bewältigung der Folgen des Versailler Vertrages ein. Sie weisen gleichzeitig auf die Naivität des Finanzgenies in Bezug auf den Nationalsozialismus hin,. Er glaubte ihn als Finanzminister kontrollieren zu können. Seine Reden gegen die Judenverfolgung und die Aushöhlung der demokratischen Prinzipien durch die NSDAP sollten ihn nicht nur seinen Job als Minister kosten, sondern auch die Feindschaft des NS-Regimes eintragen. Kein Wunder, dass Schacht sich dem Widerstand gegen Hitler in der (letztlich erfolglosen) Septemberverschwörung anschloss. Am Ende sorgten sein konsequentes Eintreten für den Frieden und die Freiheit des Einzelnen sowie seine Treue zu den Prinzipien der Freimaurerei dafür, dass er bei den Kriegsverbrecherprozessen freigesprochen wurde.
Leo Müffelmann schließlich scheiterte nicht nur am NS-System, sondern vor allem an seinen Freimaurer-Brüdern. Die brachten ihn in vorauseilendem Gehorsam dazu, seine Großloge zu verlassen. Nach seinem Austritt gründete er die Symbolische Großloge von Deutschland, die er jedoch im Zuge des Verbots der Freimaurerei auflösen musste. Er gründet sie in Israel als Großloge im Exil neu und bewahrte so das Licht der deutschen Freimaurerei. Doch ihm selbst half das wenig: Verhaftung, Konzentrationslager, schwere gesundheitliche Schäden und wirtschaftlicher Ruin waren die Folgen seines konsequenten Eintretens für die Freiheit und den Frieden.
Teil drei - die Konsequenzen für uns
Abschnitt drei baut auf den ersten beiden eher historischen Abschnitten auf. Sie enthalten zwar immer wieder Hinweise darauf, wie die freimaurerischen Gedanken und Prinzipien das tägliche politische und gesellschaftliche Handeln der drei Protagonisten beeinflusst haben und zeigen die persönlichen und freimaurerischen Verbindung unter ihnen drei auf. Doch der dritte Teil des komplexen und doch leicht lesbaren Buches ist aus einem anderen Grund der wichtigste Abschnitt: Er richtet sich direkt an uns heute.
Was die vier Autoren zu Beginn etwa in den Lebensläufen nur andeuten, wird in Kapitel drei konkret: Nur das konsequente Handeln nach den Prinzipien der Freimaurerei, das Eintreten für Frieden und die Freiheit des Einzelnen ist freimaurerisch. Ausreden wie „Die Loge ist unpolitisch.“ lassen die vier nicht gelten. Vielmehr sehen Sie die Freimaurerei als Übungsfeld und Ansporn für konkrete und handfeste Arbeit in der Gesellschaft.
Insofern holt das Buch „Freimaurer in Deutschland zwischen den Weltkriegen“ den Leser aus seiner Komfortzone. Er kann sich nicht mehr herausreden, dass man in der Freimaurerei nicht politisch sein darf, dass ein Bruder dem Staat, in dem er lebt, kritiklos dienen muss. Das Stillhalten muss dort enden, wo Unrecht zum Status quo, wo Unmenschlichkeit zum Gesetz wird, so lautet die unmissverständliche Botschaft dieses Buches. Ein Freimaurer ist politisch stets gesellschaftspolitisch engagiert, für die Schwachen, für den Frieden, für Internationalität und gegen jede Form von Nationalismus und Kleinstaaterei.
Er streitet für den Frieden, die Freiheit und die Unversehrtheit jedes Einzelnen – unabhängig von Herkunft, Geschlecht oder Ansicht. Das lehren die Vorbilder Stesemann, Müffelmann und Schacht.
Einfach wird die Annahme der drei Männer als Vorbilder, weil sie als Menschen mit Fehlern, Kinder Ihrer Zeit gezeigt werden, die allen Widrigkeiten zum Trotz versuchten, die freimaurerischen Prinzipien zu leben, die im Grunde universale Prinzipien sind.
Und so wird dieses Buch ein Plädoyer gegen Gleichgültigkeit und Bequemlichkeit – in der Gesellschaft aber auch in den Logen und unter den Brüdern. Es ist ein unbequemes Buch, ein notwendiges, nein – ein längst überfälliges Buch.
Freimaurer in Deutschland zwischen den Weltriegen von Werner Heussinger, Heike Görner, Ralph-Dieter Wilk und Hans-Peter Quandt, 272 Seite, Hardcover, Finanzbuchverlag, ISBN 978-3-95972-363-3, 22,99 Euro
Anmerkung: Dieser Text von mir ist erstmalig Anfang Januar 2021 in der Zirkelkorrespondenz, dem Mitteilungsblatt der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland, erschienen.