Es begann nicht mit Dir ...
› So lautet der Origialtitel es Buches von Mark Wolynn, dem man auch den Spruch August Bebels voranstellen könnte: „Nur wer die Vergangenheit kennt, kann die Gegenwart verstehen und die Zukunft gestalten.“
Denn der Autor geht davon aus, dass sich die meisten Verhaltensweise, Marotten oder Angewohnheiten auf Ereignisse in der Geschichte unserer Familie zurückführen lassen, und baut auf dieser Annahme dieses Arbeitsbuch für Mutige auf.
Im ersten Teil liefert er ausführlich und mit vielen Studien belegt, die Hinweise, die es dafür gibt, dass psychologische Einflüsse, Glück, Traumata oder Angst nicht nur die genetische Struktur eines einzelnen Menschen verändern können, sondern dass diese Einflüsse über mehrere Generationen bis in die Enkel- und Urenkel-Generation wirken und das Leben beeinflussen können.
Familiengeheimnisse adé
So postuliert er indirekt, dass es in Wirklichkeit keine Familiengeheimnisse gibt, sondern dass alle verborgenen Themen wie etwa die totgeschwiegene Fehlgeburt eines Kindes als Trauma von Generation zu Generation weitergetragen werden, und dass teilweise ein anderes Familienmitglied einer späteren Generation diese unbewältigte Last übernehmen kann, sei es, indem es unbewusst die Stelle dieses ungeborenen Kindes tritt oder den unterdrückten Schmerz der Eltern zu tragen versucht, der wie eine Bleiglocke über der Familie liegt.
Konkrete Beispiele als Hinweis
Dabei arbeitet Wolynn immer wieder mit konkreten Beispielen aus seiner Arbeit und schafft so einen Raum, in dem der Leser in Kontakt mit seiner eigenen Geschichte kommen kann, frei nach dem Motto „Denke das Unmögliche!“ Und er verweist immer wieder auf die Arbeit und Erkenntnisse aus der Praxis der sogenannten Familienaufstellung nach Hellinger, die tiefsitzende Traumata und Verknüpfungen in Familien aufzeigen kann.
Der Autor, Begründer und Leiter des Family Constellation Institute in San Francisco, legt mit dieser teilweise recht skurril anmutenden „Einleitung“ die Grundlagen für den zweiten und dritten Abschnitt.
Diese beiden weitaus wichtigeren Teile dieses Selbsthilfebuches dienen der Selbsterforschung und -analyse sowie der Aussöhnung mit der Familie und ihrer Geschichte, was die Selbstheilung einleiten kann.
Sprache als Schlüssel
In Teil zwei erforscht der Leser in mehreren Fragerunden die Schlüsselsprache, die Schlüsselbeschreibungen, den Schlüsselsatz und das Schlüsseltrauma, die ihn im Leben begleiten und dieses prägen. Hier sei schon einmal gewarnt: Wer sich auf diese Arbeit einlässt, kommt nicht ohne harte innere Kämpfe davon. Wut, Trauer, Schmerz sind Teil dieses Weges, denn er führt weit über die Grenzen der Komfortzone hinaus in jene Gebiete, in die die Erinnerungen verschoben wurden, weil sie wehtaten. Doch wer seinen Schmerz bewältigen, die Familiendämonen bezwingen und ein freies Leben führen will, muss sich diesen harten Wahrheiten über seine Familie und sich selbst stellen.
Die Heilung einleiten
Im dritten Teil „Die Verbundenheit wiederherstellen“ soll die Umwandlung der Erkenntnisse, ihre Integration erreicht und die Heilung eingeleitet werden.
Wieder arbeitet Wolynn mit Geschichten seiner Patienten, was zwar recht anschaulich ist, auf die Dauer aber fast zu einer langatmigen Stereotypen verkommt. Das zehnte, elfte oder zwölfte Beispiel einer „erfolgreichen Heilung“ ist eben nicht mehr interessant, sondern wirkt ermüdend und wie eine Art Selbstlob. Der Leser sollte für sich entscheiden, ob er diese Beispiele tatsächlich alle lesen muss, oder ob ein Überfliegen und das Abarbeiten der darin eingebetteten Fragestellungen und Aufgaben nicht zielführender für ihn ist.
Brücken zur Gegenwart
Denn abgesehen von dieser eher literarischen Schwäche leistet „Dieser Schmerz ist nicht meiner“ eine wichtige Arbeit: Es führt den Leser schrittweise in seine eigene Familiengeschichte hinein und damit an die Wurzeln möglicherweise versteckter Themen und Traumata, lässt ihn dabei aber nie alleine.
Und es baut Brücken von der Familiengeschichte zur Gegenwart, indem es konkrete Übungen anbietet, das eigene Verhalten in einer aktuell gelebten Beziehung auf Basis der in Teil I und II erhaltenen Informationen zu analysieren und dann entsprechend neu zu handeln.
Den Abschluss des Buches bildet das Kapitel „Schlüsselsprache als Medizin“, in dem Mark Wolynn auf Basis seiner Thesen zu Beginn des Buches konkrete Handlungsanweisungen gibt, mit denen man den ererbten Mustern im Alltag auf die Spur kommt und „dranbleibt“ am Prozess der Bewusstwerdung und des Neuanfangs.
„Dieser Schmerz ist nicht meiner“ von Mark Wollyn eignet sich nicht als Freizeitlektüre, sondern ist ein Selbsthilfe- und Arbeitsbuch für Mutige.
Das Durcharbeiten der Aufgaben erfordert Ruhe, Kraft und Durchhaltevermögen. Ein Notizbuch und ein Stift sind zwingend notwendig, wenn die Arbeit Erfolg haben soll. Ebenso unerlässlich sind Rückfragen in der Familie, um der eigenen Wahrnehmung auf die Sprünge zu helfen oder zu verhindern, dass der Verstand Episoden erfindet, die zu gut zu den bisherigen Mustern passen. Wer sich so auf das Buch einlässt und Schmerz nicht fürchtet, kann zu großer innerer Freiheit gelangen und Heilung finden. Ein wahrhaft tiefschürfendes Buch.
„Dieser Schmerz ist nicht meiner“, Mark Wolynn, Kösel Verlag, Paperback, ISBN: 978-3-466-34655-4, 18 Euro