Herr: es ist Zeit.
Herr: es ist Zeit. Der Sommer war sehr groß.
Leg deinen Schatten auf die Sonnenuhren,
und auf den Fluren laß die Winde los.
Befiehl den letzten Früchten voll zu sein;
gieb ihnen noch zwei südlichere Tage,
dränge sie zur Vollendung hin und jage
die letzte Süße in den schweren Wein.
Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr.
Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,
wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben
und wird in den Alleen hin und her
unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.
Rainer Maria Rilke (Paris 1902)
Das Sterben kosten
Der Herbst birgt Fülle und Tod zugleich. Selten sind Überfluss und Auszehrung so dicht beeinander, wie im Herbst
Gerade noch satt, grün und kraftvoll, ist das Blatt morgen zwar rot-golden und prachtvoll, aber dennoch schon dem Tod geweiht.
Und auch der Apfel, die Kastanie oder die Preiselbeere sind nur gekommen um zu sterben, damit neues Leben möglich wird. Erst wenn das Samenkorn zu Boden fällt und stirbt, bringt es reiche Frucht.
Nicht anders ergeht es dem Menschen: Zwar wird der Körper mit zunehmendem Alter schwächer, andererseits fährt er jetzt die Ernte ein.
Die Fülle leben
Im Herbst des Lebens kann der Mensch aus der Fülle leben.
Er kann von seinen Erfahrungen profitieren, weiß Niederlagen in Vorteile zu verwandeln, erkennt die Leitern, die an den falschen Wänden stehen, bevor er sie erklimmt und spart sich so klug Streit uund Wettbewerbe, die nicht zu gewinnen sind.
Er nutzt die Zeit, die Ihm bleibt, deren Grenze er jedoch nicht kennt, um sein Lebenskonto ins Gleichgewicht zu bringen, Wunden heilen zu lassen und sich nicht vom Herbstwind treiben zu lassen.
Und nutzt so die zweite Lebenshälfte um Frucht zu bringen: Klar, hilfreich, sich teilweise opfernd die Jüngeren zu begleiten in dieses Leben.