Tränen

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Grundlos weinen

Anfang Mai ist es mir zum ersten Mal wie Schuppen, nein eher wie Tränen von den Augen gefallen: Mir ist oft zum Heulen zumute. Nicht weil es mir schlecht geht, weil ich traurig bin oder leide, sondern weil ich – wie sagt man – gefühlig bin, nah am Wasser gebaut habe.

Komische Sache, dieses scheinbar grundlose Weinen.

Ich bin kein Draufgänger, habe Höhenangst, und stehe dazu, dass mir Horrorfilme oder Blockbuster wie Alien und Co eher unangenehm sind. Doch dieses „dauernde Geheule“?

Nein, das hätte ich nie von mir gedacht.

Neulich musste ich sogar rechts ranfahren, weil mir Tränen in die Augen schossen: Meine Frau hatte mich im Auto angerufen, um mir mitzuteilen, dass ich drei Tage später meien erste Impftermin bekommen würde. Dieser Gefühlsausbruch lässt sich einfach erklären: Die Erleichterung war groß, die Anspannung der vergangenen 14 Monate brach in sich zusammen und ich in Tränen aus. Der zweite Piecks war dann längst nicht so emotional, zumal die „Freiheiten“ ja auch noch 14 Tage aufgespart wurden.

Immer schon nah am Wasser...

Und wenn ich mich recht entsinne: Tränen verdrückt habe ich immer schon leicht. Egal ob bei bewegenden Nachrichten aus aller Welt oder bei Schmachtfetzen. Ja, schaue ich „Notting Hill“ und „Während du schliefst“ genauso gerne wie Action- oder Science-Fiction-Streifen. Und im Nachhinein fällt mir auf, dass mir auch bei rührigen Szenen etwa in Star Wars die Brille beschlug, weil sich meine Augen ein Wenig mit Wasser füllten. Das habe ich stets als „Ich habe was im Auge“ getarnt und dafür geschämt, nach dem Motto „ein Junge weint nicht“.

Tendenz stiegend

Doch jetzt ist vieles anders.

Häufiger, intensiver habe ich einen Kloß im Hals, spüre ich einen aufsteigenden Druck und dann kullern sie.

Einfach so. Nicht täglich, nicht in jeder bewegenden Situation, nicht mit Weinkrämpfen und lautem Gejammer. Mir ist nicht hundeelend. Die Tränen kommen eher ruhig, selbstverständlich und mit leicht steigender Tendenz

Die Brandmauer bröckelt...

Ich kenne ein, zwei ältere Freunde, Mitte 70, die, immer, wenn Dinge in Gefahr sind, die ihnen wichtig sind, in Tränen ausbrechen. Das kann man erklären: Die Erziehung zum Mann, sind die Bilder, die uns vermittelt werden und die sich hinter Sätzen wie „Ein Junge weint nicht!“ oder „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ verbergen – sind so mächtig, dass sie uns jahrzehntelang von unseren Gefühlen fernhalten.

Wenn mit fortschreitendem Alter der Testosteron-Spiegel sinkt, führt das bei vielen Männern nicht nur zu Haarausfall (und stärkerem Wachstum der Nasen- und Ohrenhaare), sondern schleift auch den hormonellen Schutzwall. Testosteron soll uns Männer auch davor bewahren, in gefährlichen Momenten die Kontrolle über uns und unsere Gefühle zu verlieren. Testosteron sorgt dafür, dass wir „auf dem Posten bleiben“, egal was passiert. Wenn Männer häufiger in Tränen ausbrechen, heißt das: Die Brandmauer bröckelt, sie werden alt.

Auch ich werde langsam alt

Als ich vor fünf Jahren in Weibern / Österreich initiiert wurde, war das ein bewegendes einschneidendes Erlebnis. Viel hat sich dort für mich geändert. Ich war mächtig stolz, erkannt zu haben, dass ich als Elder an anderer Stelle gebraucht werden würde und freute mich auf diesen verantwortungsvollen, aber grundsätzlich entspannteren Teil meines Lebens: Die Kinder aus dem Haus, ich kenne die Untiefen des Lebens und erkenne „die Leitern, die an den falschen Mauern standen, bevor ich sie erklommen hatte.“

Zwei Seiten der Medaille...

Ich konnte es ruhiger angehen lassen, musste endlich nicht mehr gegen jeden Anderen bestehen, war stattdessen plötzlich als „elder statesman“ im Job gefragt, beratend, war eher Coach als Konkurrent. Meine Ämter als Redner und Logenmeister, als Betriebsratsvorsitzender und ehrenamtlicher Arbeitsrichter wiesen in die Richtung.

Großartig, dachte ich, ich ernte, was ich 30 Jahre und mehr gesät habe.

Doch jetzt, als sich langsam dieser Hang zur „Heulsuse“ – so nannten wir gefühlige Jungen in der Grundschule – einschlich, fragte ich mich, was ich falsch gemacht hatte. Die Erkenntnis: Ich hatte die zweite Seite der Medaille vergessen, die „Leben“ heißt. Und das, obwohl ich die Erinnerung an diese zweite Seite immer dann auf meiner Brust trage, wenn ich eines der T-Shirts anziehe, die wir bei der Initiation erhalten haben.

Da steht: “M.A.L.E.” – Men As Learners and Elders. Das heißt, ich bin nicht in erster Linie ein Elder, ein Ältester, sondern vor allem anderen ein Lernender, ein ewiger Schüler. ->

Abschied nehmen, Neues lernen

Abschied vom dauer-dynamischen Mann mittleren Alters, der ich innerlich immer glaubte bleiben zu können, wenn ich mich nur möglichst perfekt in die Rolle des „elder statesman“, des Lehrers fügte. Abschied zu nehmen von dem Bild „immer von allen gefragt zu sein und zu werden“. Abschied zu nehmen vom Selbstbetrug, dass Erfahrung der Freifahrtschein zum ewige Unentbehrlich-sein ist. Das bedeutet: Abschied zu nehmen vom Prinzip „Wasch mich, aber mach mich nicht nass.“

Und gleichzeitig lernen, genau das willkommen zu heißen: Dass ich nicht immer gefragt bin oder werde. Dass mein Leben dadurch anders wird, ruhiger.

Sterben, um zu leben

Dass ein Teil von mir sterben muss, damit ich leben kann.

Das zu akzeptieren, wird wieder einige „gefühlige“ Momente bringen. Wieder werde ich weinen oder zumindest nah am Wasser gebaut haben. Aber ich werde nicht „ins Wasser gehen“ und das Wasser wird mir auch nicht bis zum Hals stehen. Denn eines habe ich seit der Initiation gelernt: Schwimmen, auch im Meer von Tränen. Die sind salzig und Salzwasser trägt bekanntlich gut. Nur freischwimmen muss ich mich noch.

Pace e bene, Stefan

P.S.: Immer, wenn ich auf meine Impfung angesprochen werde, erzähle ich die Geschichte, wie ich Tränen in den Augen hatte. Als Beispiel, wie es einem ergehen kann. Denn nur, wenn ich zu meinen Gefühlen stehe, lebe ich und kann Leben weitergeben.

Anmerkung: Dieser Text von mir ist erstmalig im Augiust 2021 als sogenannter Monatsbrief unter dern initiierten Männern von von Männerpfade verteilt worden. Für AKONO – Perspektive Mannsein habe ich ihn reddaktionell an das Layout der Seite angepasst.

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