Arme Alleskönner

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Ein gutes Gefühl

"Das kann ich nicht." gibt es bei mir nicht. Für mich gilt "Das kann ich noch nicht".

Wer bist Du? Was kannst Du? Was willst Du erreichen? Kaum etwas ist so beliebt in unseren Beziehungen und unserem Alltag wie der Vergleich mit anderen. Da wird gemessen, gewogen, geprüft und vor allem bewertet, was man kann und leistet. 

Vor Kurzem las ich im Internet den Spruch: Den Satz  ‚Das kann ich nicht.‘ gibt es bei mir nicht. Für mich gilt ‚Das kann ich noch nicht‘. Im ersten Moment war ich begeistert: Dieser Satz macht Mut. Er spornt an und weist den richtigen Weg. Es werden Kräfte mobilisiert und Schwäche wird nur als vorübergehendes Phänomen gesehen.

Wie herrlich, dachte ich: Ich muss mich nicht mehr schämen, weil ich nicht gut in Mathematik bin.  Oder schlecht in Sport. Oder nicht gut in…. Es gibt noch eine Chance für mich.

Wer will, der kann! Alles ist möglich!

Was steckt dahinter?

Doch je länger ich darüber nachdachte, umso unwohler fühlte ich mich damit. Bei den anderen in der Gruppe, mit denen ich über mein mieses Gefühl bei diesem Satz sprach, stieß ich auf Unverständnis. Sie waren der Ansicht, dass es gut und richtig sei, alles zu probieren und so lange zu üben, bis man es kann. Natürlich gibt es für sie keine Hindernisse, keine Grenzen und sie wollen ihre Kinder in diesem Weltbild erziehen.

Ja, es ist schön, viele Dinge zu können. Es macht Spaß zu lernen und neue Fähigkeiten zu erwerben. Und alles Neue an mir erweitert meinen Horizont und meine Persönlichkeit.

Gleichzeitig gibt es Dinge, die ich schlicht nicht kann, weil ich körperlich nicht dazu in der Lage bin: Ich balanciere schlecht, weil mein Gleichgewichtsorgan nicht richtig arbeitet. Ich kann also nicht Hochseilartist werden oder Schlittschuh- bzw. Inliner fahren. Doch der Internet-Spruch suggeriert, dass ich diese körperliche Schwäche in jedem Fall überwinden und meinen Traum, Hochseilartist zu werden, erreichen kann.

Die Folgen

Ich habe mich darauf eingestellt, dass ich bestimmte Dinge nicht lernen kann. Und zwar weder jetzt noch später. Fliegen gehört dazu, obwohl ich es liebend gerne täte. Aber ich bin nun mal kein Vogel. Oder unendlich tief tauchen – ich bin kein Pottwal. 

Aber was ist mit denjenigen, die diese Einstellung nicht teilen, die daran glaube, jedes Ziel erreichen zu können? Was passiert mit jenen, die sich den Spruch ansehen und sagen: Klar doch! Jetzt aber los! Und die dann scheitern? Nicht einmal, nicht zwei Mal, sondern immer wieder? Was ist mit dem Jungen, der beim Sport immer wieder letzter wird? Oder dem Mädchen, das Mathe nicht kapiert, weil es unter Dyskakulie leidet? Mit der Frau, die keine Kinder bekommen kann? Oder dem Mann der zeugungsunfähig ist? Sie alle müssen angesichts dieses Spruchs verzweifeln, gehören sie doch angeblich nicht zu den Guten, den Alleskönnern. Diese Ausgrenzung schmerzt…

... und macht krank

Um gegen diese Ausgrenzung anzugehen, werden sich diese Menschen ins Zeug legen, werden sich anstrengen und dabei über Gebühr belasten. Die Folge solcher gesellschaftlichen Mythen sind nicht selten Burnout. In dessen Folge erkranken viel Menschen dann an Depressionen , wie die Deutsche Depressions-Hilfe festgestellt hat.

Unvollkommenheit akzeptieren

Das „Jeder kann alles“ wird zum „Jeder muss alles können“. Rücksichtslosigkeit, Ausbeutung der Menschen und des Planeten, Kriege um Lebensräume oder National-Interessen folgen.

Dabei gibt es ein einfaches Prinzip: Rücksicht, Demut und Hingabe an das, was man kann, wofür man gedacht ist, für das eigene mir innewohnenden Schicksal. Das bezieht das Scheitern, das Nicht-können zwingend mit ein. Meine Grenzen sind nicht willkürlich gezogen. Sie sind Teil meiner Persönlichkeit. Meine Schwäche, mein Versagen, mein Scheitern sollen mir den Blick auf das freigeben, was ich tatsächlich aus mir heraus kann, wozu ich lebe und was deshalb Sinn ergibt – für mich und andere.

Scheitern als Auszeichnung

Scheitern und Gebrochenheit sind Auszeichnungen vor Gott, sagt der us-amerikanische Franziskanerpater Richard Rohr uund bezieht sich dabei auf das Leben Jesu: Er, den viele als Sohn Gottes verehren, ging bevorzugt zu den Sündern, also zu denjenigen, die gebrochen waren oder über die die Gesellschaft den Stab gebrochen hatte: Weil sie gegen Gesetze verstoßen hatten – staatlich, moralische oder religiöse.

Er suchte ihre Nähe und sprach mit ihnen darüber, woher sie kamen und wohin sie gehen würden. Er lebte ihnen das „Dazwischen“ vor – ein Leben in Freiheit, Selbstbestimmung und brüderlicher Liebe. Und scheiterte grandios damit. Das Establishment seines Glaubens sah ihn als Gefahr für die eigene Macht und ließ ihn im Stich, als es hart auf hart kam. Das Ende ist bekannt: Tod am Kreuz.

Jener Mann, der in Jerusalem am Kreuz gestorben ist, war ein nach menschlichen Maßstäben Gescheiterter. Sein Weg hat nicht zu dem Ziel geführt, das die Menschen um ihn herum befürchtet, erhofft oder angestrebt hatten: Königtum, Herrschaft, Macht.

Jesus starb gebrochen, unter qualvollen Schmerzen und den hämischen Rufen des Publikums den grausamsten Tod, den seine Zeit kannte. Er fühlte sich einsam, verlassen selbst von dem, den er Abba, Vater, nannte.

Und hat sich am Ende demütig hingegeben nach dem Motto „Nicht mein, sondern Dein Wille geschehe.“ Seine De-Mut in der Verzweiflung wurde belohnt. Mit unendlicher Liebe.

Jesus ist mein Bruder, als gebrochener Mensch

Jesus - Mensch Freund, Bruder

Doch was bedeutet dieser grausame Tod? Was hat er uns zu sagen? Uns, die wir in der „Gesellschaft der Alleskönner“ leben? Ist er uns heute nicht ferner als jemals zuvor, dieser Anti-Erfolgreiche, dieser Unbelehrbare?

Das mag auf den ersten Blick so wirken. Doch wer genauer hinsieht, erblickt die tiefe Bedeutung dieses Mannes von Nazareth. Ich lerne an seinem Beispiel, was es heißt, trotzig zu Vertrauen, dass es in der größten Not immer einen Ausweg, eine rettende Hand gibt – wider alle Vernunft.

Keine Hand, die mich zu neuer Höchstleistung, mehr Geld oder Macht führt, sondern zu mir selbst. Die meine Begrenztheit nicht nur anerkennt, sondern ehrt, weil sie mich unverwechselbar macht, meine Persönlichkeit zeigt und feiert. Ich bin eben nicht ebenso gleich gemacht wie mein Nebenmensch, sondern gewollt anders. Fehlerhaft, ja, und deshalb wie alle einzigartig und gesegnet.

Der gebrochene, der gescheiterte Mann am Kreuz ist für mich kein ferner unerreichbarer Gott auf einem Podest. Er ist mir Mensch, Freund und Bruder. Ich bin ihm in gewisser Weise ähnlich. Auch ich bin ein geliebter Sohn Gottes  – trotz meiner Fehler, meines Versagens und meiner Gebrochenheit. Oder gerade deshalb – weil ich kein  Alleskönner bin.