Es geht nicht um Dich
Warum darf ein Mann Niederlagen nicht offen eingestehen? Warum darf er sie nicht bedauern, nicht öffentlich unter einem Machtverlust leiden? Diese Fragen stelle ich mir, seit Robert Habeck, Co-Chef der Grünen, Annalena Baerbock zur Kanzlerkandidatin ausrief. Warum? Lest selbst.
„Annalena, bitte, die Bühne gehört Dir“, mit diesen Worten überließ Robert Habeck, am 19. April 2021 seiner Mit-Vorsitzenden Annalena Baerbock die Bühne. Sie wurde als Kanzlerkandidatin der Grünen nominiert und tritt am 26. September 2021 gegen Olaf Scholz (SPD) und Armin Laschet (CDU) an. Geschickt inszenierten die Grünen diesen Coup gegen die beiden Hauptkonkurrenten um das Amt des Regierungschefs. Habeck, in den Umfragen lange im Rampenlicht und vor Baerbock, stand plötzlich in ihrem Schatten.
Das Geschrei der Grünen-Verächter und das Genöhle der ewig-gestrigen Männer, dass eine so junge Frau, Mutter noch dazu und ohne Erfahrung als oder Ministerin, Regierungschefin werden will, lassen wir mal beiseite. Das war business as usual oder so sicher, dass ich getrost mein Augenlicht darauf hätte verwetten können.
Nicht absehbar dagegen war, was kurz danach als Reaktion auf ein großes Interview von Robert Habeck folgen sollte, in dem er ausführlich Stellung zur Kanzlerkandidatur von Annalena Baerbock nahm. ->
Schmerzhafter Verzicht
In diesem Interview in der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ sprach Robert Habeck offen über sich, die Kanzlerkandidatur, über seine Wünsche und vor allem seine Gefühle rund um seinen Verzicht auf die Kandidatur. „Nichts wollte ich mehr, als dieser Republik als Kanzler zu dienen. Und das werde ich nach diesem Wahlkampf nicht.“ zitiert ihn die Zeit und man glaubt es ihm.
Denn ohne den Anspruch, Kanzlerkandidat zu werden, wäre er im Amt eines Grünen-Chefs falsch. Gleichzeitig offenbarte er, wie schmerzhaft dieser große Tag der Grünen für ihn war: Es sei ein bittersüßer Tag gewesen, sagt er und meint damit, dass er sich gefreut habe, weil die Grünen endlich soweit seien, die Kanzlerschaft für sich beanspruchen zu können. Gleichzeitig sei der Tag der Nominierung für ihn „der schmerzhafteste Tag in meiner politischen Laufbahn“ gewesen. Er habe sein Ministeramt in Schleswig-Holstein aufgegeben, um die Grünen dahin zu bringen, wo sie nun seien. Jetzt, ganz knapp vor dem Ziel, den Lebenstraum in Griffweite, ist das vorbei. Gleichwohl habe er trotz dieser Niederlage keinen Rückzug erwogen, zitiert ihn die „Zeit“.
Der Shitstorm, der auf dieses ehrliche Bekenntnis folgte, war unglaublich. Häme, Sarkasmus, abwertende Kommentare im Dutzend, kurz: Habecks Offenheit, sein Bekenntnis zum Schmerz zur Trauer über diesen Verlust, wurde ihm als Schwäche ausgelegt.
Warum? Was ist falsch daran, sich öffentlich dazu zu bekennen, dass ein Lebenstraum geplatzt ist, dass die Entscheidung schwer war und dass er darunter leidet? In meinen Augen nichts.
Denn seien wir ehrlich: Jeder Mann kennt das, jeder hat Niederlagen erlebt, ist abgestürzt aus dem Favoritenhimmel, hat einen sicher geglaubtes Projekt, einen Job oder ein Amt nicht erhalten, wurde nicht gewählt oder oftmals sogar intrigant ausgebootet. Und hat nicht jeder dann den Schmerz gespürt, war er nicht auch traurig oder tief enttäuscht, am Boden zerstört und hat vielleicht sogar geweint, besser: geheult wie ein Schlosshund? Was also ist falsch daran, zu leiden und offen dazu zu stehen? Was ist falsch daran, in solchen Momenten mit dem Schicksal, den Umständen zu hadern und es offen zu sagen?
Die offene Wunde des Ego, ..
Es gehört vielmehr Stärke dazu und zeugt von Größe oder zumindest der Einsicht, dass allein der Wunsch, ein Ziel zu erreichen, keinen Anspruch auf dieses Ziel begründet und vielleicht von anderen Faktoren getrieben ist als Fakten und nützlichen Strategien. Und doch tröstet der Spruch „Der Weg ist das Ziel“ insolchen Komenten kaum bis gar nicht. Die Wunde, die geschlagen wurde, klafft offen und schmerzhaft im verletzten Ego, das dem Menschen vormacht, er würde sterben, weil er einmal scheiterte.
Leugne nicht das Leiden, sondern erkenne es öffentlichn an
Dem Schatten einen Namen geben
Wer seine Schwäche nach außen trägt, sich verwundbar zeigt, macht sich angreifbar. Vermeintlich starke Männer greifen diese offen verletzlich lebenden Männer schnell und brutal an, machen sie nieder, verhöhnen, oder beschimpfen die Unterlegenen, Leidenden. Warum? Ums sich selbst groß und stark zu fühlen, von sich uns der eigenen Schwäche abzulenken? Oder vielleicht aus Angst, ebenso eine Niederlage zu erleiden und dann nicht darauf vorbereit zu sein, oder gar an ihr zu zerbrechen? Ich jedenfalls wünsche mir hier mehr Anerkennung für Schwache, mehr Solidarität in der Niederlage, mehr Zärtlichkeit im Leiden, kurz: neue Perspektiven für das Mannsein.
Männer wie Robert Habeck leben vor, dass das Bekenntnis zu einer (vermeintlichen) Schwäche stärkend wirken kann. Indem er seinen Machtwillen erkennt – in seinen positiven und negativen Facetten – und ihn benennt, nimmt er ihm auch die Macht, die dieser Willen über ihn hat. Er ordnet seine Person nicht diesem Machtstreben unter, sondern zeigt, dass dieses Streben nur ein Aspekt seiner Persönlichkeit ist. Er gewinnt die Herrschaft über sich und sein Leben selbst zurück, indem er diesen Willen zur Macht aus dem Schatten hervorholt, wo er unkontrolliert weiter hätte wachsen und ihn heimlich hätte beherrschen können. ->
Den Schmerz verwandeln
Doch Robert Habeck zeigte in dem Zeit-Interview noch mehr. Er sagte, dass die Grünen nun die Chance hätten, das Kanzleramt zu erobern und – Zitat – „das ist größer als das, was man sich persönlich zutraut oder will.“
Dieses „In diesem Leben geht es nicht um Dich“ ist ein. Kernsatz in der fünf harten Wahrheiten die Richard Rohr in seinem Buch „Adams Wiederkehr“ für das Leben eines Mannes definiert. Der Grundsatz lindert den Schmerz der Niederlage oder Verlusts nicht wirklich. Aber er ordnet ihn ein, gibt ihm einen Sinn.
Indem er seinen Verzicht in einen größeren Zusammenhang stellt, ohne die persönliche Niederlage zu beschönigen, gibt er sich die Chance, den Schmerz zu überwinden, zu transzendieren, also in Zuversicht, Vertrauen und Stärke umzuwandeln.
Der Satz „In diesem Leben geht es nicht um Dich“ gibt jedem Mann, der eine Niederlage verarbeiten muss, die Freiheit zurück. Er gibt dem individuellen Leiden einen Sinn, selbst wenn der Mann, der ihn ausspricht und annehmend lebt, diesen noch nicht erkennen kann. Doch schon durch die Annahme dieser harten Wahrheit kann sich die schmerzhafte Wunde in eine „heilige Wunde“ verwandeln.
Die Stunde der Bewährung kommt erst noch
Diese Wunde lässt uns in Richtung der Quelle wachsen, aus der wir alle kommen. Doch diese Wunde, die wir uns im Kampf mit uns und unserem inneren Zwiespalt selbst schlagen, ist keine Garantie dafür, dass wir diese Quelle erreichen. Denn die innere Zustimmung zu meiner Entscheidung muss sich immer wieder neu beweisen, etwa wenn schlechtere Zeiten kommen und man sich fragt: “Hätte ich diesen Mist, der mir gerade passiert, verhindern können, wenn ich damals anders entschieden hätte?“
Alleine geht es nicht
Dann ist ein offenes Bekenntnis zum Schmerz hilfreich – wie es Robert Habeck in dem Zeit-Interview geleistet hat. Indem er sich zu einer Schwäche wie Trauer, Schmerz oder Angst bekennt, nimmt er ihnen die Macht. Er gewinnt die Herrschaft über sich und sein Leben zurück, indem er sie aus dem Schatten hervorholt, wo sie unkontrolliert weiter hätte wachsen und ihn heimlich hätte beherrschen können. Ein Mann, der in einer Männergruppe aktiv ist (Männerpfade.de, GLLFvD), kann sich dann zudem emotionale Unterstützung bei seinen Brüdern holen. ->
Eine Blaupause für andere Männer
So beschreibt der Mensch Robert Habeck dadurch, dass er offen mit seinem Schmerz und der Trauer über Niederlagen und Machtverzicht umgeht, für mich exemplarisch, wie ein Mann Herr seines Lebens bleiben und zudem an Entscheidungen wachsen kann, die auf den ersten Blick und für andere nicht oder nur schwer nachvollziehbar sind.
In beständigem Kampf mit sich selbst, im Vertauen auf einen höheren und vielleicht noch verborgenen Sinn und im Verbund mit seinen Brüdern.
Anmerkung: Dieser Text wurde von mir erstmals im April 2021 als Vortrag im vollkommenen Ordenskapitel „Inviolabilis“ zu Hamburg der Großen Landesloge der Freimaurer von Deutschland an die Brüder verteilt. Für den Blog habe ich die dem Arkanum unterliegenden Passage herausgenommen, ohne den Sinn des Vortrags zu verändern.