Therapie und das Leben mit Depressionen – Dritter Brief an Sergei

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Was passiert nach der Diganose Depression?

Was passiert eigentlich nach der Diagnose Depression? Geht das wieder weg? Muss man sich wie bei einer Grippe ausruhen und kommt dann wieder auf die Beine? Oder bleiben Symptome? Kann man vielleicht sogar „Long Depression“ bekommen? In diesem dritten Brief ergreift erneut der ältere Sergei das Wort und zeigt seinem jüngeren, depressiven Ich auf, was vor ihm liegt.

Lieber Sergei,

ich verstehe, dass Du wütend auf mich bist. Klar hättest Du an dem von Dir beschriebenen Tag an der Ostsee meine Hilfe gebraucht. Ich bin heilfroh, dass Dir das Schicksal Paul den Riesenschnauzer geschickt und Dein Verstand Dir dabei geholfen hat, Deine Situation und die Lüge Deines Bauchgefühls zu durchschauen. Gespräche wie dieses hier mit dem jüngeren bzw. dem älteren Ich sind eben doch nur in Gedanken möglich. Sonst hätte ich Dich gewarnt. Ehrenwort!

Was Du berichtest, hat Dir beigebracht, Deine inneren Impulse in Frage zu stellen. Das ist hervorragend. Der Psychotherapeut, mit dem Du in Kürze anfängst zu arbeiten, wird auf dieser Erkenntnis aufbauen und Dir zeigen, welchen Mustern Deine Gedanken folgen. Zum Beispiel, wie Du immer und überall eine sich anbahnende Katastrophe vermutest. Selbst, wenn es dafür keinerlei Grundlage gibt. Dieses und andere Muster wird Dein Therapeut ziemlich schnell erkennen. Aber es braucht Deine Bereitschaft, es ihm gleichzutun, um Deine Behandlung möglich zu machen.

Wichtig: Du hast Dir Hilfe geholt

Gedankenmuster wie das genannte haben nämlich zum Heißlaufen der Festplatte in Deinem Kopf geführt. Willst Du den Rechner oben auf Deinem Hals erfolgreich neu starten, gilt es diese Muster zu erkennen, zu analysieren und dann zu vermeiden beziehungsweise besser noch zu verändern. Du hast den vielleicht wichtigsten Schritt gemacht, als Du eingesehen hast, dass Du professionelle Hilfe brauchst. Alleine oder nur mit der Liebe von Familie und Freunden kommst Du nicht weiter. Im Gegenteil, Du überforderst Menschen, die auf Deine Bedürfnisse nicht vorbereitet sind.

Geh‘ regelmäßig zu Deinem Therapeuten, zu Anfang der Therapie mindestens einmal pro Woche. Dazu wird Dir Dein Therapeut raten und Du solltest auf ihn hören. Deine aktuelle psychische Situation ist nicht gut und Du brauchst einen Anker, an dem Du Dich festhalten kannst. Wenn die gemeinsame Arbeit die ersten Früchte trägt, wirst Du die kurzen Abstände schätzen lernen: Es gibt so viel zu besprechen, zu analysieren und zu verstehen! Wenn Du Dich auf die Anleitung Deines Therapeuten einlässt, wirst Du auf einmal wissen, warum Du Dich damals in der zweiten Klasse beim Aufsagen des Weihnachtsgedichts in der Schulaula so gefühlt hast, wie Du Dich gefühlt hast. Ich drücke das überspitzt aus, zugegeben. Aber Du verstehst bestimmt, was ich meine.

Erkenntnis führt zur Heilung

An dieser Stelle fragst Du Dich vermutlich, warum ich Dir nicht einfach verrate, was Du erkennen wirst? Tut mir leid, aber das geht nicht. Der Erkenntnisprozess ist Deine Heilung. Und die funktioniert erst, wenn Du bereit bist. Vorher kannst Du nämlich die schmerzhaften Teile Deiner Realität nicht zulassen und wirst versuchen, sie zu ignorieren. Beispiele gefällig? Kein Problem. Hast Du in Deinem Leben Fehler gemacht? Ja, hast Du. Hast Du geliebten Menschen jenseits Deiner Vorstellungskraft weh getan? Ja, hast Du. Hast Du Eigenschaften, die Du sofort und rundheraus als abscheulich bezeichnen würdest? Auch auf diese Frage lautet die Antwort Ja. Aber mehr dazu am besten in den kommenden Monaten während Deiner Akut-Therapie.

Finde Deinen Weg

Die Frage, ob Du bei einem Psycho-Analytiker oder bei einem Verhaltenstherapeuten besser aufgehoben bist, ist nicht leicht zu beantworten. Das ist eine Frage des Geschmacks, des Therapieziels und nicht zuletzt der Chemie zwischen Therapeut und Patient. Stark vereinfacht lässt sich sagen: Eine Verhaltenstherapie versucht, in überschaubarer Zeit durch Identifikation und Veränderung gewisser für die Überlastung verantwortlicher Handlungen Besserung zu ermöglichen. ->

Arbeite mit an der für Dich notwendigen Veränderung

Alle Details und Kausalzusammenhänge können dabei nicht erfasst werden. Aber die Perspektive dürfte sich für einen, der gerade noch an der kalten Ostsee sommerliche Gefühle hatte, nicht so schlecht darstellen, oder? Außerdem hält Dich keiner davon ab, zusätzlich zu den Sitzungen Zeit in Deine Therapie zu stecken und Zusammenhänge und Gründe für Dich zu recherchieren.

Jetzt dürfte der richtige Zeitpunkt sein, um die Fragen vom Anfang zu beantworten. Nein, eine Depression ist nicht wie eine Grippe. Viele müssen sich ausruhen. Aber da geht es dann nicht um ein paar Tage Ruhe, sondern um Wochen. Der Therapeut und der behandelnde Arzt erkennen das im besten Fall und handeln danach. Du darfst Dich darüber freuen, dass Du das Gefühl des Nicht-mehr-weiter-Könnens in aller seiner Schwere nicht verspürt hast. Deine Depression ist im Vergleich mit anderen ein höchstens mittelschwerer Fall. Herzlichen Glückwunsch! Du solltest Dich daher auf das Verhalten konzentrieren, das Dir schadet, und mit Deinem Therapeuten wie erwähnt an seiner Veränderung arbeiten.

Gedankenmuster wie das genannte haben nämlich zum Heißlaufen der Festplatte in Deinem Kopf geführt.

Nötige Trennungen vollziehen

Diese Veränderung wird viele Konsequenzen mit sich bringen. Schöne, aber auch traurige. Sich von Gewohntem zu trennen und sein Leben neu aufzustellen, kann sich ebenso aufregend wie erleichternd anfühlen. Aber auch weh tun. Zum Beispiel wenn Du auf das Unverständnis von Familienmitgliedern, Freunden oder Kollegen stößt, weil Du Dich auf einmal anders verhältst. Bleib‘ höflich und drück‘ Dein Verständnis für die Gewöhnung aus, die Dein Umfeld für Deine Veränderung braucht. Aber mach‘ auch klar, dass es zu dieser Veränderung keine Alternative geben kann. Die Festplatte im Kopf läuft nämlich ganz leicht wieder heiß.

Nicht alle Beziehungen im Leben halten für immer. Das gilt für den Beruf genauso wie für die Freundschaft und – ja – sogar die Liebe. Wer mit Depressionen kämpft, muss sich mit den eigenen Bedürfnissen auseinandersetzen und für die eigene Gesundheit eintreten. Das ist ein wichtiger Teil der Botschaft, die einem der Körper mit der Erkrankung Depression zu vermitteln versucht. Lässt sich nun in Deinem Umfeld ein Mensch identifizieren, der null Verständnis für Deinen Kampf hat und sich nicht auf Deinen Weg einlassen will, dann darfst Du ihn aus Deinem Leben verabschieden.

Du hast nicht die Kontrolle

Selbstkontrolle war auch immer eine Stärke von Dir. Das ist ebenfalls vorbei. Bei einer traurigen Szene in einem Film Rotz und Wasser zu heulen, gehört in Zukunft zu Dir. Gewöhn‘ Dich am besten dran. Und lass‘ Dir bitte mit Deinen Gefühlen Zeit. Bis die wieder im Gleichgewicht sind, wirst Du Geduld brauchen. Und vielleicht nie wieder ganz dort ankommen, wo Du Dich mal gesehen hast. Situationen, in denen Du etwas empfinden möchtest und nicht kannst, können zum Beispiel immer wieder vorkommen. Wenn Du das negativ sehen willst, kannst Du gerne darüber lamentieren, dass die Depression in Deinem Kopf etwas zum Schlechten verändert hat. Wenn nicht, dann freu‘ Dich darüber, dass in Deinem Kopf wichtiges Feintuning stattgefunden hat und Du Emotionen nun dann empfindest, wenn sie wirklich da sind und nicht dann, wenn Du Dich verpflichtet fühlst.

Du bist der Held, der Du immer sein wolltest

Bleibt zum Abschluss des Ausblicks auf diesen langen Weg vor Dir noch eine ganz tolle Nachricht: Seit Du klein warst, hast Du davon geträumt, ein Held zu sein. Einer, der die Schwachen beschützt und die Welt vor der Dunkelheit rettet. In Deinem Fall kein Superheld, sondern ein Elitesoldat. Dein Traum geht in Erfüllung! Du trägst zwar keine Uniform mit blitzenden Abzeichen und wirst nicht mit einem glanzvollen Fahnenappell geehrt. Aber Du stehst jeden Tag auf und führst Krieg gegen den Dementor in Deinem Kopf. Das schaffen nur die zähesten Krieger …

Selbsthilfegruppen / Notrufe / Informationen

Du hast das Gefühl, dass Du unter Depressionen leidest und suchst Hilfe? Dann sind diese Stellen vielleicht hilfreich:

Deutsche Depressionshilfe:
https://www.deutsche-depressionshilfe.de/
Deutsche Depressionsliga:
https://depressionsliga.de/
Telefonseelsorge:
0800 1110111 (evangelisch)
0800 1110222 (katholisch)
oder 116123

Allgemeine Informationen und Angebote rund um Depressionen gibt im Internet unter

http://www.depressionen-depression.net/
https://www.stiftung-gesundheitswissen.de
https://www.psychiatrie.de/
https://www.psychisch-erkrankt.de/service/adressen/
https://www.psychenet.de/de/hilfe-finden/schnelle-hilfe/krisenanlaufstellen.html

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