Depressionen erkennen – Erster Brief an Sergei

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Depressionen bei Männern sind noch immer ein Tabu. Mann redet nicht darüber, denn Mann muss stark sein. Was für ein Unsinn. Ein Betroffener schreibt seinem jüngeren, depressiven Ich einen Brief, um ihm und anderen Männern den Weg aus der Depression zu zeigen. 

Lieber Sergei,

Zeitreisen sind nach aktuellem Wissensstand genauso wenig möglich wie Gespräche mit einem jüngeren Ich. Doch nehmen wir mal für einen Moment an, Letzteres ließe sich bewerkstelligen. Dann würde ich Dir gerne ein paar Sachen sagen:

Dein Körper ist Dein bester Freund. Er will das Beste für Dich und weist Dich mit Hilfe von Zeichen wie Magenschmerzen, Verdauungsproblemen, plötzlichem Herzrasen und unerklärlichem Schwitzattacken darauf hin, dass Du Dich selbst aus den Augen verloren hast. Wenn Du Dich tagelang nach dem Aufstehen als erstes Übergeben musst, dann kannst Du versuchen, dem mit Medikamenten und dem Verzicht auf bestimmte, zum Beispiel scharf gewürzte Nahrungsmittel beizukommen. Oder Du kannst Dir die Frage stellen, wovor Du eigentlich so panische Angst hast?  ->

Nur gute oder schlechte Tage?

Antriebslosigkeit ist ein Begriff, der sich beim ersten Hinsehen nur schwer greifbar anfühlt. Jeder hat gute und nicht so gute Tage und manchmal einfach keine Lust, aufzustehen und zur Arbeit zu fahren. Alles normal und gar kein Problem. Doch wenn sich Deine Antriebslosigkeit über Wochen hinzieht und mit Symptomen wie Kopf- oder Gliederschmerzen einhergeht, dann solltest Du aufmerksam werden. Warum willst Du nicht aufstehen? Was ist am im Bett liegen attraktiver als am Frühstück mit der Familie oder dem Ausflug mit Freunden? Hättest Du das ein paar Wochen oder Monate vorher auch so gesehen?

Eine Depression ist ein mentaler Erschöpfungszustand.

Graue Pappe statt Glücksgefühl

Eine Überraschungstorte zum Geburtstag fühlt sich normalerweise so an, wie sie schmeckt. Sie löst ein süßes Glücksgefühl aus, das einen zusammen mit Geschenken und guten Wünschen von Familie, Freunden und Kollegen den ganzen Tag alles ein bisschen rosarot sehen lässt. Das hast Du lange nicht erlebt? Geburtstage, Aufmerksamkeiten und der Ausdruck von Zuneigung allgemein wecken die Assoziation von einem grauen Stück Pappe? Oder schlimmer: gar keine?

Gedankenkarrusell, Ziellosigkeit...

Wenn Du morgens im Bad vor dem Spiegel stehst, achtest Du normalerweise drauf, dass die Rasierklinge alle Barstoppeln sauber entfernt und Du Dir dabei nicht weh tust. Richtig? Doch schau mal genauer hin.

Wirkst Du blass, ausgezehrt und müde? Wo bist Du gerade mit Deinen Gedanken? Drehen sie sich unaufhörlich wie ein Karussell? Wiederholst Du in Gedanken ständig das Gleiche und kommst an keinem Ziel an? Vergisst Du Dinge, derer Du Dir kurz vorher noch sicher warst? Zum Beispiel die sechs Eier, die Du aus dem Supermarkt mitbringen wolltest, weil Deine Frau sie unbedingt fürs Abendessen brauchte. Rutschen Dir beim Abtrocknen auf einmal Gläser aus der Hand, obwohl Dir das vorher noch nie passiert ist?

Oder schreckst Du beim Autofahren ganz plötzlich aus deinen Gedanken hoch und stellst fest, dass Du dich an die letzten Kurven beim besten Willen nicht erinnern kannst? Mit Deiner Frau neben Dir und Deiner Tochter auf dem Rücksitz? ->

Warnzeichen gibt es viele, sehr viele

Eine Depression ist ein mentaler Erschöpfungszustand. Die konkreten Symptome sind so verschieden wie die Menschen, die betroffen sind. Doch Du kannst sie neben vielen anderen Warnzeichen ganz gut daran erkennen, dass sie den Arbeitsspeicher in Deinem Kopf belegt, den Du normalerweise für andere Sachen nutzt. Etwa für die Aufmerksamkeit im Straßenverkehr. Nimm das nicht auf die leichte Schulter! Ein bisschen Abwarten und hoffen, dass sich das Problem von selbst löst, hilft nicht. Ich weiß, Du hast gelernt, Probleme zunächst mal zu ignorieren und dann, so gut es geht, um sie herum zu existieren. Instinktiv wirst Du dieses Verhalten reproduzieren. Doch es macht Deine Situation nicht besser, im Gegenteil

Dir selbst in die Augen zu schauen und den Satz zu sagen „Ich brauche Hilfe!“, mag zunächst wie ein unüberwindbares Hindernis erscheinen. Schließlich hast Du ja sonst auch immer funktioniert. Aber es ist lange nicht so schwer, wie Du denkst. Oder besser: Es fühlt sich wahnsinnig gut an! Ich kann Dir versprechen, dass Dir in diesem Moment sprichwörtlich ein ganzes Gebirge vom Herz rollt und Du allein durch dieses Eingeständnis ein kleines bisschen Leichtigkeit zurückbekommst. Klar, der Weg, der jetzt vor Dir liegt, wird kein leichter. Dieses Zitat an dieser Stelle zu benutzen, liegt nahe. Vielleicht zu nahe.
Doch Du wirst mir das verzeihen können. Schließlich magst Du so offensichtliche Anspielungen genauso gerne wie ich.

Schritt für Schritt...

Als erstes wendest Du Dich am besten an Deinen Hausarzt und unterrichtest ihn von Deinen Beobachtungen. Wenn Du Glück hast, weiß er (oder sie) bereits einiges über den gebotenen Umgang mit Depressionen und kann Dich mit Tipps unterstützen. Der nächste Weg sollte Dich zu Deiner Krankenkasse führen. Meist bekommst Du dort eine Liste mit Psychotherapeuten in Deiner Stadt, mit denen die Kasse zusammenarbeitet. Das erleichtert die Auswahl.

Du bist nicht verpflichtet, einen der genannten Therapeuten zu wählen. Aber wenn man sich sowieso überfordert fühlt, darf man diese Hilfe gerne annehmen. Auf den Erhalt der Liste folgt die Kontaktaufnahme mit den einzelnen Therapeuten und der Check, wer wie schnell welche Therapiekapazitäten frei hat. Das kann dauern und wird Kraft kosten. Denn der Therapeut, mit dem die Chemie stimmt, kann einen nicht immer sofort im Terminkalender unterbringen. Doch es ist unausweichlich und lohnt sich. Der Gewinn, den einem eine gute Therapie bringt, ist unbezahlbar.

Nur Du kannst Dich retten

Kommen wir zum Abschluss noch zu einem extrem wichtigen Punkt: Wann hast Du das letzte Mal Deine Frau wirklich wahrgenommen?

Hast Du die dunklen Ringe unter ihren schönen Augen gesehen? Ist Dir aufgefallen, dass das Glitzern, das Du an ihren Augen so liebst, komplett verschwunden ist? Das liegt daran, dass Deine Frau neben Dir Höllenqualen leidet.

Sie weiß schon länger, dass etwas ganz Wichtiges mit Dir nicht stimmt. Sie spürt, wie Du Dich geistig, emotional und körperlich von ihr entfernst und kann die Motivation dafür nicht nachvollziehen. Im schlimmsten Fall macht sie Deine wachsende Abwesenheit sogar an sich selbst fest und bekommt sie ernste Zweifel an Deiner Liebe zu ihr. Schlimm?

Ja, aber noch nicht schlimm genug.

Deine Frau versucht nämlich gleichzeitig verzweifelt, Dich zu retten. Vermutlich versorgt sie Dich seit Wochen, Monaten oder vielleicht sogar seit Jahren mit Hinweisen auf Deine Veränderung und stellt dabei fest, wie sie auf taube Ohren stößt. Das sollte Dich alarmieren.

Denn erstens ist es nicht die Aufgabe Deiner Frau, Dich zu retten. Das kann sie gar nicht. Das musst Du unbedingt selbst tun. Und zweitens wird sie schneller Deine Ex-Frau sein, als es Dir lieb sein kann, wenn Du Deine Probleme nicht erkennst und ernsthaft angehst. Ähnliches gilt vermutlich für Deine Tochter.     

Der Gewinn, den einem eine gute Therapie bringt, ist unbezahlbar.

Sergei Kabirow: Sergei ist Journalist und lebt in Hamburg. 2018 wurde bei ihm eine Depression diagnostiziert. Seine Unfähigkeit, sein Problem überhaupt wahrnehmen zu wollen, hat Sergei seine Ehe gekostet. Seit er sich in psychotherapeutischer Behandlung ist, hat sich sein Befinden entscheidend verbessert. Sergei konnte die akute Phase seiner Depression bereits nach relativ kurzer Zeit hinter sich lassen und sowohl voll ins Arbeitsleben zurückkehren als auch privat einen neuen Weg für sich finden.    

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