Greift eine Depression um sich,
…kann der Depressive an Suizid denken. Die Auseinandersetzung mit der Dunkelheit im Kopf ist schmerzvoll und bietet oft keine Perspektive auf ein schnelles Licht am Ende des Tunnels. In diesem zweiten Brief antwortet der depressive Sergei seinem älteren Ich und beschreibt den Moment, in dem ihm der Selbstmord plötzlich als ein Ausweg aus seiner emotionalen Tragödie erschien. Und er sagt, warum er diesen Weg dann doch nicht gegangen ist.
Lieber Sergei,
Auch wenn Gespräche mit einem älteren Ich nach heutigem Wissensstand nicht möglich sind, gehe ich gerne auf Deinen Vorschlag einund nehme für einen Moment an, so eine Unterhaltung ließe sich bewerkstelligen. Es gibt da nämlich etwas, was ich Dir gerne sagen würde:
Ich verstehe, was Du mit Deinem Brief erreichen willst. Doch Du sparst leider eine Begebenheit aus, für die ich Deinen Rat wirklich hätte brauchen können. Damals an der Ostsee, an diesem trüben Tag im Dezember. Aber lass‘ mich am besten vorne anfangen … ->
Schrecklich allein
Das Wochenende, um das es geht. war eigentlich ganz anders geplant gewesen. Raus aus Hamburg, Freunde besuchen, Ausbruch aus dem täglichen Trott, den Kopf frei kriegen. Ein spontaner, flexibler Mensch bin ich nicht. Daher hatte ich weder alternative Pläne noch eine geniale Eingebung, als die erwähnten Freunde den Besuch wegen schlimmer Grippe absagten. Nur einen Mietwagen hatte ich. Der war bezahlt und wartete auf seinen Einsatz. Also brach ich frühmorgens in Richtung Ostsee auf, um zumindest ein bisschen am Strand spazieren gehen zu können. Ich war todtraurig und fühlte mich schrecklich allein gelassen. Niemand würde mich an diesem Tag bemitleiden.
Als ich in Kühlungsborn ankam, schreckte ich zurück. Das rausgeputzte Örtchen passte nicht zu meiner Stimmung.Trotz Nebel war mir alles viel zu bunt und lebendig. Hübsch gemalerte Hausfassaden in mediterranen Farben. Fürchterlich! Außerdem waren auf der Straße Menschen unterwegs. Auch das konnte ich gar nicht gebrauchen. Es hätte mir ja jemand meinen Gemütszustand ansehen können. Also weiter.
Einfach verschwinden...
Das nächste Ziel, das mir einfiel, war die Insel Poel. Dort gefiel es mir auf Anhieb besser. Die dicke graue Suppe am Himmel wirkte wie eine kuschelige Daunendecke und in der Siedlung rund um den Leuchtturm war keine Seele auf der Straße.
Ich parkte das Auto ein paar Schritte vom Hafenbecken entfernt, zog meinen Mantel über und machte mich auf den Weg ans Wasser. Fensterläden ohne Licht, manche sogar verrammelt. Hier hatte keiner auf mich gewartet und würde mich daher auch nicht wahrnehmen. Perfekt! Das Wichtigste war vermutlich aber: Ich hatte das Gefühl, dass mir die Flucht aus meinen Leben geglückt war. Raus aus dem verhassten Job. Weg aus der Stadt, in der mich alles an mein altes Leben erinnerte. Nicht mehr erreichbar sein. Einfach verschwunden.
Entdecke die Möglichkeiten
In mir breitete sich ein warmes Gefühl aus. Keine Schwere mehr, die meine Gedanken verlangsamte. Keine Angst mehr, kein Schmerz. In dem Moment, in dem ich auf den Strand trat und das Wasser erreichte, erfüllte meinen Kopf ein herrlich sommerliches Gefühl. Wie an der Adria bei 25 Grad. Würde ich geradeaus weitergehen, würde mich eine süße Wärme umfangen. Meine Kleidung würde sich wie in einer wohltemperierten Badewanne langsam vollsaugen und ich könnte ganz langsam in eine andere Welt wegschweben. Eine Welt, die mich im wahrsten Sinne des Wortes in die Arme nähme. Alles leicht, alles entspannt.
Das spiegelglatte Meer lachte mich förmlich an und lockte: „Komm! Keine Angst. Nur ein paar Schritte. Dann ist alles vorbei, was Dir weh tut.“
Und dann kam Paul...
In dem Moment stupste etwas gegen meinen Oberschenkel und ich nahm ein Hecheln war. „Paul! Hierher!“, rief es hinter den kleinen Mini-Dünen. Der schwarze Riesenschnauzer machte auf dem Absatz kehrt und flitzte in Richtung seines Frauchens. Ich wusste erstmal nicht, wo ich war.
Dann spürte ich den kalten Wind im Gesicht, sah den grauen Himmel über und das pechschwarze Meer vor mir. Ich hörte auf einmal, wie das Wasser träge auf den Strand schwappte und roch das Salz in der Luft. Ich fror, knöpfte als erstes Mal meinen Mantel zu und setzte die Mütze in meiner Hand auf. Dann begann mein Herz, wie wild zu klopfen.
Was war passiert?
Das falsche Bauchgefühl
Hatte ich gerade tatsächlich Suizid als Lösung für meinen Schmerz in Betracht gezogen? Ja, hatte ich. Beziehungsweise mein Bauchgefühl hatte mir diese Lösung vorgegaukelt. Ich dachte an meine Familie und fühlte mich schuldig. Dann setzte ich einen Fuß vor den anderen und begann, den Strand entlangzulaufen. Wie konnte ich so egoistisch sein? Selbstmord ist Feigheit vor dem Feind, schoss es mir durch den Kopf. Daran darfst Du nicht mal denken. Ich lief und lief.
Als ich außer Atem war, verlangsamten sich erst meine Schritte und dann mein Puls. Und mit ihnen kehrte auch im Kopf langsam wieder Ruhe ein. Darf ich an Suizid denken? Klar darf ich. Es sind meine Gedanken und es ist mein Leben. Ich darf sogar nach diesen Gedanken handeln. Ich sollte es bloß nicht tun. Das Bauchgefühl, das einem diesen Ausweg aus dem Schmerz in strahlenden Farben zeichnet, lügt einen nämlich an. Auf den Schritt Selbstmord folgt kein Schmerz und kein Kampf mit den Dämonen im Kopf mehr. Es folgt aber auch sonst nichts.
Sergei Kabirow: Sergei ist Journalist und lebt in Hamburg. 2018 wurde bei ihm eine Depression diagnostiziert. Seit er sich in psychotherapeutischer Behandlung befindet, hat sich Sergeis Zustand entscheidend verbessert. Die akute Phase seiner Depression konnte er schon nach kurzer Zeit hinter sich lassen. Der beschriebene Vorfall hat in Sergei den Wunsch geweckt, seine Überzeugung in Wort zu fassen, dass das durch die Depression getrübte Bauchgefühl nicht vertrauenswürdig ist.
Du hast suizidale Gedanken? Dann kannst Du Dir anonym von der Telefonseesorge helfen lassen, Du erreichst sie kostenlos und rund um die Uhr unter 0 800 / 111 0 111 und 0 800 / 111 0 222 . oder 116 123. Die Telefonseelsorge bietet auch Online-Beratung an. Auf der Seite der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention findest Du zudem eine Liste mit bundesweiten Hilfsangeboten.